VON SUSANNE LENZ Berliner Zeitung, 17.6.2016
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dieses Sprichwort besagt, dass Kinder nach ihren Eltern kommen. Gut, wenn die Eltern mit großen Begabungen ausgestattet sind, mit wertvollen Charakterzügen oder Schönheit. Was aber, wenn nicht? Als Walter seine Oma besucht, empfängt diese ihn mit den Worten:„Du kommst ganz nach deinem Vater“. Da zerschmeißt Walter erst einmal ein paar Gläser mit Omas selbstgekochter Marmelade.
Nach seinem Vater zu kommen, ist nämlich so eine Sache. Der sitzt im Knast. Das Theaterstück„Geheimnisse“ beschäftigt sich mit Angehörigen von Menschen, die im Gefängnis sitzen, ihren Ehefrauen und vor allem ihren Kindern. Geschätzt 100 000 Kinder in Deutschland haben einen Vater im Knast. Oder eine Mutter, aber das kommt wesentlich seltener vor. Nur etwa fünf Prozent der Strafgefangenen sind weiblich. „Mitbestraft“ war der Arbeitstitel der Inszenierung, und das sind diese Mädchen und Jungen wirklich. Die Szene mit Walter und seiner Oma zeigt eines ihrer Dilemmata: Wie verhält man sich zu einer Identifikationsfigur, die ein verurteilter Verbrecher ist?
Die Schulklasse, die an diesem Morgen auf den Zuschauerbänken der Studiobühne im FEZ sitzt, ist unruhig. Auch als das Licht schon aus ist, wird geflüstert und gelacht. Doch dann spricht Walter die ersten Sätze und hat die ganze Aufmerksamkeit. Der Teenager hat gerade die Schule gewechselt, zum zweiten Mal. „Wo ist denn dein Alter?“, fragen ihn die neuen Mitschüler. „Mit’ner anderen Frau abgehauen“, antwortet Walter, der überzeugend wütend und gequält zugleich von David Knopp gespielt wird. Den Satz hat ihm seine Mutter aufgetragen. Aber es kommt, wie es bisher jedes Mal gekommen ist, an jedem neuen Wohnort, in jeder neuen Schule: Plötzlich wissen es doch alle. Ob sie wieder fliehen und sich woanders verstecken sollen? Die Umzugskartons, aus denen das simple Bühnenbild besteht, symbolisieren ihre Verteidigungsstrategie, die eine Vermeidungsstrategie ist und doch immer scheitert. Die Wahrheit laufe ihnen wie ein junger Hund hinterher, sagt Walters Mutter (Christine Roller).
Den Text hat die Regisseurin Monika Dobrowlanska aus dokumentarischem Material destilliert und aus zwei Jugendbüchern, die sich mit dem Thema beschäftigen: „Nenn mich einfach Super“ von Reinhold Ziegler und „Mama im Knast“ von Maja Gerber- Hess. Die zweite Hauptfigur in diesem Stück ist Elfi. Ihre Mutter hat ihren Chef umgebracht. An Elfi wird demonstriert, wie die Umwelt auf diese Situation oft reagiert. Sie darf nicht mehr mit ihrer besten Freundin in den Urlaub fahren, deren Elternwollen es nicht. Elfi ist plötzlich kein guter Umgang mehr. Sie schämt sich. Mirja Henning verleiht ihrer Elfi eine stille Verzweiflung. „Geheimnisse“ ist realistisches, sozial engagiertes Theater, das sich an
Jugendliche ab 13 richtet. Doch auch Erwachsene erfahren die Nöte dieser Mitbestraften als dringlich.